Zwischen Wahrnehmung und Interpretation unterscheiden.
Bei der Frage „Was tun, wenn wir kurz vor dem Ausbruch sind?”, kommen meistens fast automatisch Antworten wie: Eigene Emotionen im Griff haben. Klingt einfach, ist jedoch in der Praxis meistens schwierig umzusetzen. Es bedarf eigener Arbeit, Geduld und Übung darin. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Selbstbeherrschung, Selbstregulation, in Verbindung mit sich selbst bleiben, wenn starke Gefühle hochkommen – das wurde vermutlich nicht jedem von uns in unserer Kindheit beigebracht. Emotionen entstehen durch die Interaktion mit anderen Menschen und sind die Folgen der erfüllten oder unerfüllten Bedürfnisse. Wenig Einfluss haben wir darauf, ob und wie sie auftauchen. Wir haben jedoch die Möglichkeit, unsere Reaktion darauf zu wählen. 

Ein Beispiel dazu. Immer wieder, wenn Michael nach Hause kommt, hört er von seiner Frau: „Es gibt kein Brot zu Hause.” Er beginnt darauf zu schreien: „Du hättest mich doch anrufen und es mir sagen können, dass ich eins besorgen soll! Ich bin doch müde und kann nicht an alles denken. Außerdem musst du mir nicht jedes Mal zeigen, dass ich deinen Erwartungen nicht entsprechen kann!”
Seine Frau sagt meistens darauf: „Ich glaube, du hast Schwierigkeiten mit sich dir selbst und kommst nicht klar mit deinen Gefühlen. Das solltest du aber, denn sonst ich es schwierig, miteinander zu kommunizieren. Ich vermute, es kommt von deinem niedrigen Selbstwertgefühl. Du regst dich wirklich unnötig auf. Ich habe ja lediglich gesagt, dass es kein Brot zu Hause gibt.”
Darauf bekommt Michael Schuldgefühle, die ihn ganz schön quälen. Er entschuldigt sich bei seiner Frau für sein Verhalten. Sie nimmt seine Entschuldigung an und erinnert ihn daran, dass er an seinem Selbstwertgefühl und Selbstkontrolle arbeiten sollte. Das schwächt wiederum wieder mal Michaels Selbstbewusstsein, weil er wieder mal einen Vorwurf von ihr hört. Sich alleine zu entschuldigen und zu versprechen, dass er sich das nächste Mal anders verhält, wird beim besten Willen nicht reichen. Fast in jedem Satz, der den er von seiner Frau hört, sieht er einen Vorwurf, dass er nicht genug gut genug als Mann, Vater, Mensch sei. Entmutigung und Hilflosigkeit, Schuld- und Schamgefühle, dass es so tatsächlich sei, wachsen in ihm. Seine Hausaufgabe besteht hier darin, sein Selbstvertrauen zu stärken, Selbstbeherrschung zu üben und einen Kontakt mit sich selbst zu pflegen, seine Gefühle und die dahinter meist unerfüllten Bedürfnisse wahrzunehmen. Dies hat es nachzuholen, manchmal wird dafür auch eine professionelle Begleitung benötigt.

Eine der Grundannahmen der GfK ist die Unterscheidung zwischen einer Wahrnehmung und einer Interpretation. Die Interpretationen sind es, die uns in den Gedankenfluss bringen, die eine Defensive fordern und die es unmöglich machen, die wahren Bedürfnisse uns selbst und der anderen in dem Moment zu sehen.
Was hat die Frau von Michael tatsächlich gesagt? Dass das Brot fehlt. Wie hat es Michael interpretiert? Er hat gehrt, dass seine Frau wieder mal unzufrieden mit ihm ist, weil er etwas nicht machte, was er vermutlich machen sollte.

Wie hätte Michael sonst reagieren können, wenn er bei den Fakten bliebe: „Es gibt kein Brot zu Hause”? Er hätte verschiedenes sagen können: „Ok, ich gehe gleich einkaufen, ich erhole mich erstmal kurz.”, „Willst du, dass ich einkaufen gehe?”, „Informierst du mich nur darüber oder möchtest du, dass ich gleich einkaufen gehe?”, „Wollen wir ein Abendessen ohne Brot machen?”, usw. Wenn wir Fakten von eigenen Interpretationen trennen, bekommen wir ein viel größeres Spektrum an Möglichkeiten in der Situation. 

Wie können wir uns verhelfen, nicht in die „Wolfsshow” einzusteigen? Dazu möchte ich dir eine Liste mit Fragen vorschlagen, die hilfreich in den kritischen Momenten sind.
Für den Anfang drucke ich sie aus und hänge auf demsie am Kühlschrank auf. Mit der Zeit werden sie zu deiner Gewohnheit:
– Was ist eigentlich passiert?
– Was wurde tatsächlich gesagt?
– Was sind die Fakten?
– Was sind meine Annahmen?
– Was fühle ich grade?
– Was ist mir am Wichtigsten? Woran liegt es mir?
– Was brauche ich grade?
– Was für Möglichkeiten habe ich?
– Was würde mir helfen?

Diese Fragen geben uns eine Wahlmöglichkeit. Wenn wir uns entscheiden, die andere Person zu verurteilen, reagieren wir mit unserem inneren Kritiker fast wie auf Auto-Pilot in einer Situation. Durch eine kurze innere Reflexion erlangen wir neue Informationen und können aus mehreren Optionen wählen. Wir können damit in Verbindung mit uns selbst und der anderen Person bleiben und den Kontakt weiterhin aufrechterhalten.

Vorherige Artikel:

#1 Maria und ihr Sohn – bewertende Gedanken bringen uns zur Wut.
#2 Schimpfen als eine von vielen möglichen Reaktionen, die uns zur Verfügung steht.

Du brauchst Austausch zu diesem Thema? Komm in die kostenlose Facebook-Gruppe „Giraffenherzen” und teile deine Gedanken.

Hast du schon mein E-Book „Vier Schritte zur Konfliktlösung in der Familie”? Lade es herunter und besuche ein Online-Workshop dazu. Ich freue mich auf dich!